
Für den Zusammenhalt
Brauchen wir ein Pflichtjahr? Diese Frage erhitzt die Gemüter. Häufig wird recht schnell ein Generationenkonflikt daraus. So muss man die Debatte aber gar nicht führen.
Viele Menschen – darunter ich selbst – machen sich große Sorgen wie unsere Gesellschaft aussieht und zusammenhält, wenn der demografische Wandel erst einmal richtig zuschlägt. Wenn wir beispielsweise heute schon zu recht einen Arbeitskräftemangel im sozialen Sektor beklagen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Verrentung der so genannten Baby Boomer gerade erst begonnen hat. Wir rechnen auch im DRK damit, dass wir viele Angebote, die heute z.B. in der Pflege erbracht werden, künftig nicht mehr erbringen können. Einfach weil die Leute fehlen. Das gilt in allen Arbeitsfeldern der Wohlfahrtspflege und im Katastrophenschutz. Insofern ist es folgerichtig, dass viele Leistungen wieder verstärkt in nachbarschaftlichen, familiären oder zivilgesellschaftlichen Settings erbracht werden müssen. Und hier verorte ich die Idee, das durch ein Gesellschaftsjahr zu flankieren. So betrachtet ist es dann keine Übergriffigkeit der Boomer auf die Jüngeren, sondern eher die Frage, wie unsere Gesellschaft künftig aussieht. Und hier sehe ich eine tragende Rolle für das DRK. Da kommen wir ja her. Das ganze DRK ist getragen von dem Gedanken, dass Menschen füreinander Sorge tragen und sich gegenseitig unterstützen. Dafür, dass diese Frage auch Jüngere bewegt, stehen die rund 140.000 jungen Menschen im Jugendrotkreuz sowie die jährlich rund 15.000 Freiwilligendienstleistenden bei DRK-Trägern. Wenn wir von diesen Gedanken ausgehen und die Frage stellen, wie man das Engagement von jungen Menschen noch besser mobilisieren und die Gesellschaft von morgen noch besser auf die anstehenden Herausforderungen vorbereiten kann, dann ist es nicht mehr weit zu einem Gesellschaftsjahr. Es gibt allerdings deutlich smartere und effizientere Wege als eine verbindliche Pflicht. Auch hier ist der Arbeitskräftemangel ebenso einzubeziehen wie finanzielle Restriktionen. Wer soll denn einen kompletten Jahrgang administrativ begleiten? Im öffentlichen Dienst scheiden 1,36 Millionen Beschäftigte in den nächsten zehn Jahren aus. Es gibt mit den Freiwilligendiensten ein funktionierendes System, auf das man aufsetzen kann und mit dem noch sehr viel mehr junge Menschen, aber auch ältere Menschen erreicht werden können. Damit das gelingt, bräuchte es aber öffentliche Investitionen, vor allem in der Gestaltung eines Freiwilligengelds. Denn das derzeitige „Taschengeld“ ist so knapp, dass die Aufnahme eines Freiwilligendienstes häufig vom eigenen Geldbeutel bzw. dem der Eltern abhängt, sodass sich viele Menschen ein solches Engagement nicht leisten können. Unser „Jahr für die Gesellschaft“ sieht die folgenden Eckpunkte vor. Schätzungen gehen davon aus, dass so rund 200.000 Freiwillige pro Jahr gewonnen werden könnten (circa eine Verdopplung der derzeitigen Zahlen):
- Flächendeckende Information über die Angebote eines Jahres für die Gesellschaft, verbunden mit konkreten Beratungsmöglichkeiten
- Steigerung der Attraktivität der Dienste (unter anderem Freiwilligengeld angelehnt an den BAFöG Satz, Deutschlandticket, bundesweit identische Anerkennung für Studienzulassung)
- Zuverlässige und dauerhafte Finanzierung durch den Bund. Derzeit sind die Träger jedes Jahr abhängig von den jährlich neu zu verhandelnden Haushaltsansätzen des Bundes
- Begleitung durch Kampagne über den Wert eines Dienstes für die Gesellschaft für die Persönlichkeitsentwicklung (Berufsorientierung, Einblick in bisher fremde Arbeitsfelder, Grundlage für evtl. spätere ehrenamtliche Tätigkeit).
Das Jahr für die Gesellschaft hat das Potential, junge Menschen zu mobilisieren, ihnen ein gewinnbringendes Jahr zu ermöglichen und sie mit Eindrücken und Skills auszustatten, auf die sie immer wieder zurückgreifen können. Der gesellschaftliche Zusammenhalt würde gestärkt.
Ein Punkt ist mir an dieser Stelle noch wichtig. Auch in Zeiten des Arbeitskräftemangels geht es nicht darum, dass die Freiwilligen während ihrer Dienstzeit einfach die Lücke schließen und einspringen, wo Beschäftigte fehlen.
Das würde zu Recht zu viel Verdruss führen und auch nicht funktionieren. Deswegen ist es nicht zielführend, ein Gesellschaftsjahr als unmittelbar wirkendes Rezept gegen den Arbeitskräftemangel zu verkaufen. Eine möglichst weitgehende Stabilisierung der Dienste und Einrichtungen braucht es unabhängig von den hier skizzierten Vorschlägen. Das Jahr für die Gesellschaft wiederum muss konsequent als Kerninstrument für Engagementpolitik konstruiert sein. So profitiert die Gesellschaft heute und morgen. Und so profitiert auch das DRK mit seinen ehrenamtlichen Gemeinschaften.