Die seltsame Zukunft

Es ist eine seltsame Sache mit „der Zukunft“. Jeder hat eine, ob bekannt oder unbekannt.

Matthias Horx
3/2022

Auf jedem Wirtschaftskongress hören wir begeisterte Reden über die glorreichen Perspektiven von morgen – Gähnen im Publikum inklusive. Die Zukunft ist immer aufregend, aber das Problem ist: Sie kommt zu oft nicht so wie erwartet. Und auf magische Art und Weise bleibt sie immer gleich.

In einem Interview mit der ZEIT sprach William Gibson, Autor von „Neuromancer“ (vielleicht der einzige „echte“ Futurist unserer Zeit) über den „Fieberanfall von Volksfuturismus“ in den 60er und 70er Jahren. In dieser Zeit glaubten alle an fliegende Autos, glorreiche Raketen und lustige Haushaltsroboter. In vielerlei Hinsicht ist diese Zukunft bei uns geblieben. Die Zukunft scheint auf ihre eigene Art konservativ zu sein...

Futuristen und ihre Vorhersagen

Jenseits des Orakels von Delphi und unzähliger Wahrsager und Hellseher entstand die Idee einer „Zukunft“ in der  Renaissance (1400–1620). Der erste Futurist der modernen Industriezeit war H.G. Wells (geb. 1866), ein halb depressiver Universalist, der sich für Medizin, Wahnsinn, Poesie und Zeitreisen interessierte. Er sagte die „Dinge, die kommen“ imfrühen Industriezeitalter voraus, einschließlich der Ängste und Probleme der Moderne. Die aus Italien stammende Kunstbewegung der „Futuristen“ pries damals die Geschwindigkeit und den Aufruhr der Moderne.

Was macht ein Futurist?

Futuristen sind Menschen, die versuchen, die Zukunft vorherzusagen und zu analysieren. Dafür untersuchen sie (historische) Daten und aktuelle Zusammenhänge und erstellen dafür Prognosen für die Zukunft.

Orwell und Huxley, die Gurus einer Zukunftsdystopie, haben sich nie als Futuristen verstanden, sind aber bis heute berühmt, denn Angst braucht ein Narrativ. In den sechziger Jahren kam Hermann Kahn, das „Monster aus dem Pentagon Think Tanks“, das wirksame Schlankheitspillen vorhersagte (er wog 180 Kilo). Der Bestseller-Autor Alvin Toffler machte sich unsterblich, indem er den Begriff „Zukunftsschock“ erfand: Die Zukunft ist immer zu schnell, um ihr zu folgen. Toffler sagte Hubschrauber für alle, Wegwerfkleidung, Unterwasserstädte, tägliche Antidepressiva, Klonen von Menschen und Casting-Shows voraus.

(i) George Orwell (*1903, +1950) und Aldous Leonard Huxley (*1894, +1963) waren Schriftsteller, die unter anderem Berühmtheit durch ihre dystopischen Romane erlangten. Diese handelten von einer erschreckenden Zukunft.

Das Tückische an Vorhersagen

Das ist das Tückische an Vorhersagen: Man weiß nie, ob sie richtig waren, und zwar aus zwei Gründen: Wenn ihre Zeit gekommen ist, ist niemand mehr interessiert (oder tot). Zweitens: Wenn sie bewiesen werden können, hat sich der Kontext geändert.

Haben wir heute Wegwerfkleidung? Ja, aber nicht aus Plastik. Wir haben Prozac, und manche Leute fangen an, ihre Kinder zu „klonen“... aber nicht ganz. Aber müssen Vorhersagen überhaupt „richtig“ sein? Was ist der wahre Kern von Prognosen und Vorhersagen? Genauigkeit? „Echtheit“? Exaktheit?

Trends haben nichts mit der Zukunft zu tun

In den neunziger Jahren entfernte sich der Futurismus von fliegenden Autos und Atomkriegen – in den Bereich des Marketings und des Konsumverhaltens. Die Zukunft wurde zur Haltung, zur Geste, zum Lebensstil – sie fiel in die Gegenwart und verschmolz mit dem Wort TREND. […]

Trends haben nichts mit der Zukunft zu tun. Wenn man über Trends spricht, spricht man eigentlich über die Gegenwart – aber man tut so, als ob es nicht so wäre. Trend-Gurus können nie falsch liegen, sie „erklären“ oder „favorisieren“ als Expert*innen des Neuen. Trends kann man nicht vorhersagen, auch wenn alle das Glauben. Man kann sie verlängern oder als „Megatrends“ deklarieren; dann werden sie normativ und unwiderstehlich. Die Menschen mögen vorherbestimmte, unwiderstehliche Zukünfte. […]

Das Runaway-Narrativ

Langfristige Technologieprognosen können niemals widerlegt werden. Sie schaffen das „Runaway“-Narrativ: Wenn die vorhergesagte Technologie nicht eintritt, wird sie einfach später kommen. Auf diese Weise hat sich der Futurismus selbst korrumpiert – und ist an der Technologie unterernährt. Er wurde fettleibig mit sehr einfachen, linearen technologischen Modellen, die in banale Sensationen verwandelt wurden, die alle gleichzeitig aufregend UND beängstigend finden.

  • Wir werden uns alle Chips unter die Haut implantieren lassen,
  • Roboter werden überall sein, und unsere Häuser werden voll automatisiert sein,
  • Künstliche Intelligenz wird uns „übernehmen“,
  • Cyberspace und selbstfahrende Autos ...
    was immer Sie wollen.

Woher kommt diese Konformität? Als Futurist in der übermedialen Gesellschaft sind Sie in der Unterhaltungsbranche tätig, und Sie werden nicht dafür berühmt, WAS Sie sagen (nicht einmal über Ihre richtigen Vorhersagen), sondern wenn sich die Leute
daran erinnern, was Sie gesagt haben. Das hängt von der Lautstärke und der Spannung oder dem Nervenkitzel Ihres Themas, Ihrer Erzählung ab. […]

Zukunfstmüdigkeit und Superforcasting

Die alte Verheißung einer besseren Zukunft scheint müde, abgelaufen, zumindest nicht mehr verdrahtet. Die Dinge, die kommen sollen, kommen immer zu spät, wie die schönen Raumanzüge, in denen wir alle umwerfend aussehen würden, oder der verdammte Haushaltsroboter, der unsere Haushalte aufräumen wird, damit wir nicht in Putzdiskussionen mit unseren Lieben geraten.

Aber eines der aufregendsten Experimente zur Zukunft des Futurismus ist auf dem Weg: Das „Super-Forecasting“-Projekt von Philipp Tetlock, einem amerikanischen Psychologen. Tetlock beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit der Frage, wie persönliche
Eigenschaften und Denkweisen unsere Fähigkeit zur Vorhersage beeinflussen. Auf seiner Website www.goodjudgment.com analysiert er permanent, wer richtig und wer falsch liegt. Er identifiziert – und lehrt – so genannte „SuperForecasters“.

“Superforecaster”

sind gewöhnliche Menschen, die besonders gute Vorhersagen und Prognosen treffen können. Die Idee hinter Superforecasting ist, dass manche Menschen Vorhersagen besser beherrschen als Experten auf ihrem gewählten Gebiet. Superforecaster können also Personen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens sein.

Dreihundert von ihnen sind inzwischen weltweit identifiziert. Sie sind nicht die neuen Propheten, aber sie denken ein wenig vorsichtiger und vernetzter. Sie sind selbstreflektierender, selbstbewusster und selbstkritischer. Sie vermeiden lineare Modelle und verstehen die Bedeutung von Turbulenzen. Sie sind vorsichtig, was sie vorhersagen und in welchem Zusammenhang –
und das bedeutet, dass niemand sie kennt – aber auch, weil sie ihre Erkenntnisse nicht laut in der Öffentlichkeit verkünden müssen.

Futurismus ist Storytelling

Aber geht es im Futurismus überhaupt um „Prognosen“ oder „Prognostik“? Es geht und ging schon immer um Storytelling. Das muss nicht negativ sein. Wenn wir die Zukunft auf die richtige Weise nutzen, funktioniert sie wie ein Spiegel. Ein Werkzeug, um geistige Komplexität zu schaffen, bessere Entscheidungen zu treffen, klarere Ziele in einer globalen Kultur zu definieren.

Wir sollten anfangen, wirklich interessante Fragen zu stellen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Technologie und menschlicher Psychologie? Welche Rolle spielt die Zufälligkeit in Systemen? Was bedeutet Resilienz im Kontext des  postindustriellen Fortschritts? Liegt die Zukunft immer vor uns? Oder sind wir von ihr umgeben? Auf einem Planeten mit vielen Zeitzonen zwischen der Steinzeit und morgen müssen wir mehr über die erstaunliche Komplexität des Lebens, der Gesellschaft und der Kultur lernen. Die Zukunft ist ein Abenteuer, nicht eine gegebene Tatsache. Wie wunderbar!

Matthias Horx (* 25. Januar 1955) ist Trend- und Zukunftsforscher. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Studien. Mit seinen Thesen und Gedanken liefert er regelmäßig Denkanstöße für breite öffentliche Diskussionen.

Aktuelle Publikation:
„Die Hoffnung nach der Krise: Wohin die Welt jetzt geht oder wie Zukunft sich immer neu erfindet“, 2021, ECON Verlag

Lese-Tipp:
„Sinnmaximierung-Wie wir in Zukunft arbeiten“, Tristan Horx, 2022, Quadriga Verlag

Quelle: Der gesamte Artikel ist in englischer Sprache erschienen unter https://www.horx.com/zukunftsforschung/the-strange-future/ geschrieben für „MONOCLE 2017“