Meine Freunde, meine Identität

Christoph Treubel
BJRK/Veronika Winter
3/2021

Ich arbeite als Psychotherapeut mit Kindern und Jugendlichen. Das heißt, zu mir kommen Menschen zwischen 0 und 21 Jahren, wenn sie Probleme mit ihren Gefühlen, ihrem Verhalten oder ihren Gedanken haben und sie darunter auch leiden. Keine Überraschung – seit der Covid-19 Pandemie habe ich viel mehr Anfragen nach Therapieplätzen als vorher. Das liegt vor allem an einer Sache: Lockdown macht einsam.

Klingt erst mal seltsam, weil die meisten Kinder und Jugendlichen nicht wirklich „einsam“ waren – die Eltern oder die Geschwister waren ja oft auch den ganzen Tag zu Hause. Nein, die Leute aus der Klasse fehlen, aus der  Jugendgruppe, der Fußballmannschaft – und sogar manche Lehrerinnen und Lehrer konnte man vermissen. Aber vor allem anderen war es hart, die besten Kumpels oder die guten Freundinnen wochenlang nicht sehen zu können. Da kann man sich echt krank fühlen und das kann auch krank machen.

Woran liegt das?

Schon als Kindergartenkinder merken wir, dass uns neben unseren Eltern auch andere Kinder wichtig werden. „Freunde“ oder „Freundinnen“ sind dann diejenigen, mit denen man besonders gut spielen kann oder die das tolle Spielzeug haben. Je älter wir werden, desto mehr begreifen wir, dass Freundschaft mehr ist als nur „was Nettes“ zusammen zu unternehmen. Wir merken, dass unsere beste Freundin oder unser bester Freund jemand ist, der ein  Geheimnis für sich behalten kann, der zu uns hält, wenn wir Schwierigkeiten haben und der für uns da ist. Und wir merken, dass wir auch für unsere Freundinnen und Freunde da sein müssen und dass wir auch mal einen Kompromiss schließen müssen. Das sind wichtige Erfahrungen, die wir nur mit unseren Eltern und unseren Geschwistern nicht machen würden. Und: Kindern, die keine guten Freunde oder „beste Freundin“ (Freund) haben, geht es meistens richtig schlecht – sie fühlen sich häufiger ängstlich oder traurig und haben mehr Probleme in ihrem sozialen Umfeld.

Nochmal anders wichtig werden uns andere Kinder und Jugendliche etwa ab 12 Jahren. Wir verbringen ab dann immer mehr Zeit mit unseren Freundinnen und Freunden und weniger Zeit mit unserer Familie. Das heißt nicht, dass uns die Eltern weniger wichtig sind – nur helfen uns unsere Beziehungen zu Gleichaltrigen mehr dabei, uns zu dem zu entwickeln, was uns ausmacht – die Psycholog:innen sprechen von unserer „Identität“.

(i) Identität

Denken, Fühlen, Verhalten: Welche Faktoren formen die Persönlichkeit eines Menschen? Psychologen gehen davon aus, dass unsere Identität durch eine Mischung aus genetischen Anlagen und sozialem Umfeld geprägt wird – und dass wir uns immer wieder neu erfinden.

Einfach gesagt: Wenn wir mit anderen Gleichaltrigen zusammen sind, Sachen ausprobieren, die Erwachsene nicht mitkriegen und die sie auch nix angehen, beginnen wir erstens immer mehr zu verstehen, wer wir sind und welche Stärken (und Schwächen) wir haben.

Und zweitens: Die Freundinnen und Freunde, die wir uns suchen, die Gruppen, in denen wir mitmachen, verändern uns auch und bestimmen so zumindest ein bisschen mit, wer wir sind und wer wir werden.

Sie helfen uns dabei, unsere Identität zu finden und sie entwickeln unsere Identität weiter.

Also zum Beispiel: Wenn Du Dich im JRK einbringst, in Deiner Gruppe lernst, wie Du anderen hilfst und warum es gut ist, sich für andere einzusetzen, dann „tust“ Du ja nicht so, als ob Du hilfsbereit bist – Du bist es.

 

Die Art, wie deine Jugendgruppe als Gruppe ist – auf psychologisch: die „soziale Identität“ der Gruppe – färbt auf Dich ab. Sie sorgt z. B. mit dafür, dass Du ein hilfsbereiterer Mensch bist.

 

Das heißt jetzt nicht, dass wir nur noch so sind, wie unsere Freunde oder andere in der Gruppe uns haben wollen. Natürlich werden wir Gemeinsamkeiten mit den anderen haben. Aber daneben hilft uns die Gruppe auch, einzigartige Eigenschaften zu entwickeln, die uns ausmachen.

Was ab dem Jugendalter auch wichtig ist: Wir lernen, dass wir mit Gleichaltrigen ganz enge Freundschaften haben können, dass wir mit andern über private Dinge auch außerhalb der Familie sprechen können, dass wir ihnen Vertrauen schenken und uns auf sie verlassen können. Das sind großartige Erfahrungen, die wir für eine gute Entwicklung brauchen.

Covid-19 hat uns echt herausgefordert, was unsere Beziehungen zu anderen betrifft. Wir haben gelernt, wie wir auch auf Distanz zusammenhalten können und wie es klappen kann, dass wir in Kontakt bleiben. Egal, wie es sich weiterentwickelt – im besten Fall haben wir noch mehr gemerkt, dass unsere Freundinnen und Freunde für uns da sind und wie wichtig sie für uns sind – jetzt und auch in Zukunft.

Christoph Treubel (Psychologe, Dipl. Heilpädagoge) arbeitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis in Ba mberg. Er is t seit 25 Jahren im BRK aktiv und u.a. seit 2017 stv. Bezirksbereitschaf tsleiter in Ober- und Mittelfranken und M