Himmelsrichtung N/O: Lettland

Anfang Oktober des vergangenen Jahres machte sich das JRK Rhön-Grabfeld auf eine Reise nach Lettland. Mit im Gepäck hatten sie für das noch im Aufbruch befindliche Land Medikamente, Decken, Spielsachen sowie materielles und immaterielles JRK-Know-How. Was sie so alles an Eindrücken und Überraschungen erlebten, erzählt uns Thomas Schuck in seinem Bericht.

Thomas Schuck
2/2000

Nachdem ich vor Abfahrt nichtwusste, was mich dort erwarten würde - und man hörtja so vieles Negative - habe ich folglich nur solche Klamotten eingepackt, die mir inklusive Taschen, Schuhen und Geldbeutel komplett hätten „entliehen“ werden können. Man will ja niemandem was unterstellen! Darunter natürlich auch die Dienstkleidung des JRK, die mir seither sehr ans Herz gewachsen ist. Nein, ich musste sie nicht den ganzen Tag anlassen, weil mir der Rest abhanden gekommen ist, viel schlimmer ... (dazu später). Nach einer entspannten Fahrt quer durch Deutschland (gepriesen seien die deutschen Autobahnen, egal  wie viele Baustellen zu finden sind!), einer Odyssee durch das nichtendenwollende Polen (gestresst durch die recht eigene Fahrweise seiner Bewohner) und der Durchquerung Litauens (trotz bescheidener Beschilderung und ohne jede Autobahn) haben wir unser erstes Etappenziel Riga nach 33 Stunden erreicht. Die Maximalgeschwindigkeit lag bei 130 km/h auf den wenigen Kilometern Autobahn im Osten und atemberaubenden 90 km/h auf der Landstraße (etwa 99% der Strecke - kein Witz). Und das Ganze bei unendlich vielen Radarkontrollen. Der Präsident des JRK Lettlands hatte uns in einem Stundentenwohnheim einquartiert - nebenbei bemerkt das Beste, was uns hatte passieren können. Dort angekommen fragten wir uns, wieso wir die Reise überhaupt angetreten hatten, denn auf dem Parkplatz waren mehrheitlich studentische Automarken wie Audi, darunter ein 98er A6, verschiedenste Modelle von Mercedes von 190er bis 300er und auch typisch bayerische Karossen in jeder Größe bis zum 5er. Als wir dann aber hörten, es sei die private Eliteuni Lettlands, hatte sich die Situation wieder relativiert, der Durchschnittslohn liegt in Lettland übrigens in etwa zwischen 210 und 310 DM (Lehrer bekommen etwa 275 DM) und der Liter Benzin kostet circa 1 DM - dies nur als kleine Richtgröße. Nach einer hoch interessanten Stadtführung (viel Kultur und der - Entschuldigung - Unmenge an wunderhübschen Frauen!) haben wir nach einer kurzen und spaßigen Nacht im Studentenwohnheim die Weiterreise nach Aluksne, einer Stadt mit 10.000 Einwohnern, angetreten. Begrüßt durch die RK Chefin Aluksnes wurden wir zu unserm Quartier, einem Internat, gebracht und im Anschluss unserer Kontaktperson im dortigen Gymnasium vorgestellt. Empfangen von einer Schar singender Schülerinnen und Schüler, und nicht zuletzt den ernormen PR-Maßnahmen während der 7 Tage war es wohl zu verdanken, dass am Montag eine ortsansässige JRK-Gruppe gegründet wurde. Die Hilfsgüter haben wir im Krankenhaus (Standard wie im Deutschland der frühen 60er - v. a. die sanitären Anlagen in unvorstellbarem Zustand, ehrlich!), im Altersheim (8er Zimmertrostlos), im Kindergarten (ausnahmsweise in gutem Zustand - Kinder waren höchstes Gut des Sozialismus) und der Sozialisation, zur Verteilung an Bedürftige, abgegeben.

Im Kindergarten von Aluksne

Die genannten Institutionen haben wir gleichzeitig besichtigt. Eindrücke, die man leider nicht in Worte fassen kann, die betroffen machen und aufzeigen, wie hilflos man ist! Sie haben mir gezeigt, dass die Medien-Berichterstattung zwar Bilder liefert, man sie jedoch wegzappen kann, wenn sie unangenehm sind. Was aber noch viel entscheidender ist, man nimmt über das Fernsehen keine Gerüche wahr, eine Erfahrung, die das Gesehene “einbrennt”. Im Falle des Krankenhauses ein Geruch von Moder und Sporen vermengt mitstechendem Urinmief- und da soll jemand gesund werden?! Egal, wo wir aufgetaucht sind, wir stießen immer auf Herzlichkeit, ehrliche Dankbarkeit und Offenheit, ob Privathaushalt oder beim Empfang durch den Bürgermeister. Selbst Letten, die weder Deutsch noch Englisch konnten, nahmen mit Händen und Füßen Kontakt zu uns auf. Beim Besuch verschiedener Museen und bei der  historischen Stadtführung durch einen Studenten wurden wir mit der Vergangenheit Lettlands konfrontiert, die die Deutschen, wie fast überall in Europa, nicht im besten Licht erscheinen lässt. Und trotzdem trafen wir überall und ausnahmslos auf die schon angesprochene Freundlichkeit. Beeindruckt hat uns auch die schon oft besungene Schönheit der holden Weiblichkeit! Wie 's mit dem starken Geschlecht stand, vermochten die aus nahmslos männlichen Teilnehmer nicht zu beurteilen. Trotz Armut kleiden sich die meisten Letten sehr elegant und zeigen so ihre finanziellen Probleme nicht nach außen. Sie behalten sich ihren Stolz auf ihre Weise. Wir jedoch sind durch unsere vorsichtige Kleiderwahl, mit der wir eigentlich nicht auffallen wollten, als bunte Hunde herumgelaufen. Von der Optik her hätten eher wir humanitäre Hilfe nötig gehabt. Da hat uns unsere Dienstkleidung glimpflich aus der Affäre kommen lassen. Da das besuchte Rote Kreuz Unterkunft und Verpflegung abgesandter Delegationen übernimmt, wurden wir vom Lettischen Roten Kreuz in einem Restaurant untergebracht, in dem auch der Aluksner Lions Club diniert. Dementsprechend lecker ging es auch zu. Aberselbst hier waren die sanitären Anlagen mehr als mangelhaft, keinesfalls westlichem Standard entsprechend (wie übrigensso ziemlich überall). Unsere Stammkneipe hingegen zeichnete sich durch eine hervorragende Toilette aus, weswegen wir sie auch zur solchen auserkoren hatten und einmal täglich aufsuchten. Alles in allem kann man sagen, dass Lettland seinem Ziel, in die EU zu kommen, auf direktem Wege entgegenstrebt. Man kann diessehen an der Modernisierung des Straßensystems (um EU-Normen zu erfüllen), an der Abschaffung von Russisch als erster Fremdsprache durch Englisch (gleich nach der Befreiung Lettlands von russischer Besatzung 1991), an der Einführung von Deutsch als zweiter Fremdsprache, an der Bildung von Umweltgruppen, die russische Umweltschäden zu beheben versuchen (Umweltbewusstsein!), an der Einführung westlicher Systeme in Verwaltung, Schule und und und. Vor allem aber an (leider) noch wenigen jungen Leuten, die anpacken und einen, wenn auch kleinen, Beitrag zum Umdenken liefern. Hierbei soll die neugegründete JRK-Gruppe helfen, die mit allen möglichen Mitteln aus unserer JRK-Gruppe unterstützt werden wird. Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten war unser Ziel. Einen Anfang haben wir geschaffen und sind mit großen Schritten einem noch weit entfernten Ziel entgegen geeilt. Ob es erreicht werden wird, hängt vom lettischen Volk ab. Wir wollen aufjeden Fall im nächsten Jahr wieder dorthin fahren, um den erwarteten Fortschritt zu sehen und erneut - Mut zu machen.

Titelfoto: Werner Busch, Thomas Schuck, Egon Krimm, Ronni Petersen (LdJA), Aija Briede (Vors. LRK Aluksne), Mara Bondarenko (LRK Helferin). Maik Sorber und der Fahrer des vom KV Rhön-Grabfeld gespendeten Busses Normunds Snikrs (kniend)