Jugendzeit

Aspekte zeitlicher Freiräume von Jugendlichen.

Dr. Anne Berngruber & Dr. Nora Gaupp, DJI
(c) BJRK/Veronika Winter
1/2021

Der Schule wird eine zunehmend zeitliche wie inhaltliche Bedeutung für die Ausgestaltung des Alltags von Jugendlichen zugesprochen. In den letzten rund 10 bis 15 Jahren wurden durch Reformen im Bildungswesen veränderte Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Jugendlichen geschaffen. Neben der Fortsetzung der Bildungsexpansion ist hierbei der Ausbau schulischer Ganztagsangebote wesentlich. Die pädagogisch betreute Zeit dehnt sich hierdurch aus und die selbst verfügbare, frei planbare Zeit wird weniger.

 

Aus jugendpolitischer Sicht wird daher gefordert, genügend Freiräume für Jugendliche zu schaffen, um die Erfahrung von Jugend zu ermöglichen (vgl. BMFSFJ, 2017).

 

Freiräume können zeitlich sowie räumlich verstanden werden. In diesem Beitrag liegt der Fokus vor allem auf der zeitlichen Komponente von Freiräumen.

(i) „Freiräume“

 

„An den Begriff „Freiraum“ geknüpft sind Auszeiten, Rückzugsorte, Erprobungsräume, Orte, die nicht mit Leistungszwang und Leistungsdruck sowie Fremdbestimmung verbunden sind“ (BMFSFJ, 2017, S. 50).

 

„Freiraum bedeutet für Jugendliche vor allem freie Zeit, die sie selbstständig verantworten und strukturieren. Sie ist Selbstzweck, der ohne Messbarkeit auszukommen hat.“ (AGJ, 2016, S. 5).

Selbstbestimmte und Fremdbestimmte Zeit

Das Verhältnis zwischen Fremd- und Selbstbestimmtheit von Freiräumen ist ambivalent und nicht eindeutig. Freie verfügbare Zeit, die außerhalb der Schule zur Verfügung steht, kann dennoch zumindest teilweise fremdbestimmt sein. Denn neben Schulaufgaben können durchaus auch Aufgaben im Haushalt und weitere Verpflichtungen (z. B. Arzt- und Behördentermine, Nachhilfestunden) hinzukommen, die Jugendliche zu erledigen haben.

 

Doch auch Aktivitäten, bei denen anzunehmen ist, dass sie freiwillig und von den Jugendlichen selbst gewählt sind, können – zum Beispiel durch die Eltern – fremdbestimmt sein. Ein Beispiel ist der klassische Musikunterricht, der möglicherweise ursprünglich aus eigenem Wunsch heraus begonnen wurde. Von den Jugendlichen kann jedoch der wöchentliche  Unterricht und das regelmäßige Üben mitunter als eine Art Zwang und als fremdbestimmt empfunden werden. Freie Zeit Jugendlicher kann somit nicht losgelöst von den institutionellen und zeitlichen Eingebundenheiten in Familie, Schule, Ausbildung oder Beruf gesehen werden.

Damit verbringen 10- bis 17-Jährige die meiste Zeit:

 

11:48 Stunden: persönliche Regeneration: Essen und Trinken, Körperpflege und Schlafen

3:48 Stunden: Qualifikation und Bildung

2:08 Stunden: Sport, Hobbys und Spiele

Freie Zeit

Freizeitaktivitäten machen gerade bei Jugendlichen einen wichtigen Teil ihrer freien Zeit aus. Im DJI-Survey „AID:A II“ („Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, 2014/15) wurden Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren gefragt, wie oft sie bestimmte Dinge in ihrer Freizeit tun.

 

Das Internet ist aus der Lebenswelt von Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Mit zunehmendem Alter sind schließlich so gut wie alle Jugendlichen regelmäßig online. Das Internet erfüllt eine zentrale Funktion für Jugendliche: Neben dem Rumsurfen und Recherchieren halten sie damit außerhalb der Schule Kontakt zu ihren Freunden, wobei sie dies meist selbstbestimmt ohne die Kontrolle der Eltern tun. Diese Netzaktivitäten schließen soziale Kontakte in der physischen Realität keineswegs aus.

 

Neun von zehn Jugendlichen treffen sich mindestens ein- bis zweimal pro Woche mit Freundinnen und Freunden und verbringen mit ihnen Zeit.

 

Ähnlich sieht es bei körperlichen Aktivitäten wie Sporttreiben aus. Knapp die Hälfte der Jugendlichen engagieren sich mindestens ein- bis zweimal pro Woche sozial oder in einem Verein.

 

Gemeinsame Unternehmungen mit der Familie werden mit dem Alter zunehmend seltener, während Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr immer häufiger in Clubs, Discos oder Kneipen gehen. Dies hat vermutlich mit Ablösungsprozessen zu tun, die in dieser Lebensphase stattfinden.

 

Nichts zu tun und einfach mal rumzuhängen beschreibt wohl am ehesten selbstbestimmte Zeit von Jugendlichen, in der sie selbst entscheiden können, wie und mit wem sie diese Zeit verbringen möchten. Die oben zitierte jugendpolitische Forderung nach freier Zeit, die ohne Messbarkeit und ohne Leistungsdruck auszukommen hat, spiegelt sich hier wohl am besten wider.

Mehr zum DJI-Survey "AID:A II"

Subjektive zeitliche Belastungen von Schülerinnen und Schülern

Die in der Schule verbrachte Zeit und die damit verbundenen Anforderungen und Belastungen können sich auch auf die Qualität der zur Verfügung stehenden freien Zeit und das Wohlbefinden der Jugendlichen auswirken.

 

In Bezug auf die Debatte um zeitliche Verdichtung und Beschleunigung in Kindheit und Jugend ist es interessant zu sehen, wie Jugendliche die Schule selbst wahrnehmen. Es fällt auf, dass Gymnasiastinnen und Gymnasiasten am häufigsten der Aussage zustimmen, dass sie sich nach der Schule meistens erschöpft fühlen. Auch antworten mehr als ein Drittel von ihnen, dass die Schule ihnen kaum Zeit lässt, sich mit ihren Freunden zu treffen. Dem stimmen Hauptschülerinnen und Hauptschüler ebenfalls häufiger zu als Schülerinnen und Schüler der Realschule. Auch die Aussage, dass die Anforderungen der Schule eine große Belastung sind, wird am seltensten von Realschülerinnen und Realschülern getroffen.

Fazit

Die Jugendphase gilt als Moratorium, d.h. als Phase, die in der Regel noch nicht von (zeitlichen) Verpflichtungen durch Erwerbstätigkeit und Familiengründung bestimmt ist (vgl. Zinnecker 1991). Aber ist das für Jugendliche auch eine Phase des Zeitwohlstands, in der sie nicht nur „(genügend) Zeit haben“ mit denjenigen, die ihnen wichtig sind, sondern eben auch „entdichtete“ Zeit sowie Zeit, die sie selbstbestimmt gestalten können?

(i) Vier Komponenten des „Zeitwohlstands“ nach Jürgen Rinderspacher (2012)

 

→ Über genügend Zeit für die eigenen Bedürfnisse verfügen

→ Ausreichend gemeinsame Zeit mit Familie und Freunden verbringen

→ In möglichst hohem Maß selbstbestimmte Zeit realisieren können (d. h. die Verwendung der eigenen Zeit weitgehend selbst kontrollieren, beeinflussen, steuern)

→ Möglichst entdichtete Zeit haben

Die Gefühle der Verdichtung von Zeit und von zu wenig gemeinsamer Zeit mit Freundinnen und Freunden sind durchaus markant. Die Anforderungen der Schule belasten manche Schülerinnen und Schüler und können sie unter bestimmten Umständen am Zusammensein mit Freundinnen und Freunden hindern. Doch neben den Belastungen durch die Schule schaffen sich Jugendliche Freiräume für sich selbst, in denen sie Zeiten im Internet oder gemeinsam mit Peers verbringen oder, oft auch gemeinsam mit diesen, nichts tun bzw. rumhängen.

(i) Peergroup

 

Ist eine soziale Gruppe von gleichaltrigen, gleichartigen oder gleichgesinnten Personen. Sie stellt in der Regel einen wichtigen Erfahrungsraum von Kindern und Jugendlichen dar, in dem Lern-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse stattfinden. (Quelle: www.socialnet.de)

Jugendpolitisch ist das „Ringen um Freiräume im Jugendalter“ zentraler Aspekt geworden. „Es kommt darauf an, das Jugendalter nicht nur im Hinblick auf Qualifizierungs-, sondern auch auf Selbstpositionierung und Verselbständigungsprozesse als Zeit der Umwege und Nicht-Linearitäten, der Sprünge und Neuanfänge (wieder) zu entdecken und anzuerkennen“ (BMFSFJ, 2017, S. 71).

Mehr Infos

Der ganze Artikel ist erschienen in: Zeitpolitisches Magazin, 16 Jg., H. 34, S…

DJI - Deutsches Jugendinstitut

 

Das DJI ist eines der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute und erforscht die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Familien.

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