Immer diese Vorurteile

"Hast Du den neuen Lehrer schon gese hen? Also, ich weiß nicht! Ausschauen tut er ja nach gar nichts.

Manfred Mahr
2/1973

Und dann: für sein Alter ist er ganz schön konservativ. Die Brille müßtest Du mal sehen: total altmodisch. Und außerdem: Fährt der doch tatsächlich noch mit dem Fahrrad zur Schule. Als ob Lehrer nicht genug verdienen würden. Und überhaupt : er ist mir gänzlich unsympathisch." "Unseren neuen Chef haben sie wohl auch irgendwo abgesägt. Ich kann mir nicht vorstellen, was der mit seiner Vorbildung bei uns will. Ich habe ja gehört, er soll schon mehrmals geschieden sein. Dabei hat er drei Kinder. Außerdem soll er recht knickrig sein. Außerdem : welche Neuerungen der einführen will! Na ja, ich laß ihn mal kommen. Bei mir wird er sich die Zähne ausbeißen!"
Mal ehrlich : irgendwo hast Du das alles schon einmal gehört. Irgendwann einmal hast Du Dich dabei ertappt, daß Du selber so geredet hast. Tja, ein Neuer hat es schwer! Noch bevor er in seinem neuen Aufgabenbereich Fuß gefaßt hat, tut sich eine Wand von Vorurteilen auf. Noch bevor er Gelegenheit hatte, seine Vorstellungen zu entwickeln (vom Präzisieren ganz zu schweigen), stehen da viele "wenn" und "aber" oder "das haben wir doch schon immer so gemacht". Nun ist das Vorurteil ein allgemein verbreitetes, menschliches Übel. Wir alle sind mehr oder weniger davon befallen. Die Wurzel dieses Übels liegt bei uns selbst (mangelnde persönliche Eigenschaften, Neid über die Fähigkeiten des anderen, Komplexe, Angst vor dem Neuen : "das haben wir schon 25 Jahre lang so gema'cht, also war es gut", mangelnde Vorstellungen über die Absichten des anderen usw. usw.). Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Hand auf's Herz : Vorurteile und Verallgemeinerungen machen es uns manchmal leichter. Schließlich kann man nicht jedes Mal vorher überlegen, ob das alles so stimmt. Oder? Schwieriger wird es erst dann, wenn wir selber davon betroffen werden. Wie heftig können wir dann reagieren, wie unverstanden uns fühlen, wie ungerecht behandelt. Denken wir dann noch daran, was der andere wohl damit gemeint haben könnte? Worte drücken ja nicht unbedingt das aus, was der andere damit sagen wollte.
Jetzt ist die Zeit, da Wahlen uns auf allen Ebenen neue Gesichter bescheren, Im Beruf und in der Schule hat der eine oder andere vielleicht einen neuen Chef, einen neuen Lehrer bekommen. Lassen wir unseren "Neuen" Zeit, sich in ihr Arbeitsgebiet einzuarbeiten. Bieten wir Ihnen Loyalität, Aufgeschlossenheit und ehrliche Mitarbeit an. Geben wir ihnen die Möglichkeit, im Laufe der Zeit die eigenen Vorstellungen mit der praktischen Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Seien wir offen in der Kritik, dabei aber immer die Gesetze der Höflichkeit wahrend. Schließlich : wem nutzt eine vernichtende Kritik? Hüten wir uns also vor Vorurteilen und Verallgemeinerungen. Eines Tages könnten wir selber davon betroffen sein.