Henrys junge Kameraden

Ein Abend beim Kreisverein: Jugendrotkreuz - was ist das eigentlich?

Jutta Fröhlich
1&2/1974

Ohne Hast und Blaulicht trifft der weiße Transporter mit dem roten Kreuz in der abendlich-stillen Nebenstraße etwas abseits vom Zentrum der Großstadt ein. Erwartet von einer Gruppe junger Leute, wird er in eine Parklücke vor grau-bröseligen Mietshäusern rangiert. Aus dem Inneren klettern mehrere Personen: ein etwa SOjähriger Mann, drei, die halb so alt sein dürften, zwei junge Mädchen. Sie kommen vom Bereitschaftsdienst, vom Sportfest. „War viel zu tun", sagt einer, „war einfach zu heiß heute, Ohnmächtige am laufenden Band." Man schiebt sich zusammen ins Haus, an dem außen ein etwas verwittertes Schild auf seine Nutzung hinweist: Deutsches Rotes Kreuz/Kreisverein. Im freudlosen Gruppenraum läßt sich alles am langen Tisch nieder. „Ich eröffne die heutige Jugendleitersitzung", spricht der Älteste der Runde. Und dann sagt er noch: „Der Kamerad Hermann übernimmt den Vorsitz. Was steht denn auf der Tagesordnung?" Kamerad Hermann, Mechaniker von Beruf, flankiert und assistiert von seiner hübschen jungen Ehefrau, die als ehrenamtliche Kreissachbearbeiterin im Jugendrotkreuz mitwirkt, hat zwei Punkte anzubieten: das fällige Sterntreffen der Jugendgruppen aus dem Großstadtraum und einen Bericht von der letzten Sitzung des Stadtjugendrings. Das Sterntreffen hält auf. Vor allem die Frage, ob man Schinken oder Bierwurst auf die Brötchen legen soll, die man den Kindern und Jugendlichen als Festzehrung anzubieten gedenkt, 1,80 Mark pro Person. Mehr hat der Kreisverein für die Lustbarkeiten nicht spendiert. Die Runde murrt: „Was bekommt man schon noch für die paar Piepen?" Einer lenkt von der fruchtlosen Debatte um die Brötchen auf ein anderes Thema: Spiele, die gespielt werden sollen. Wer hat was vorbereitet? Vettrollern, Hindernislauf, Ballonstart? Zuerst hat keiner. Dann poltert eine kurzhaarige blonde Kameradin los: Schön -  sie habe sich was ausgedacht, aber wo denn die anderen blieben, fragt sie aufgebracht.

Der Ruf der Kneipe

Die zwanzig angesprochenen starren betreten auf die leere Tischplatte, nesteln die Hände - Gerd und Pit, Hans, Kurt, Thomas, Uli - auch die Mädchen und jungen Frauen: Werkzeugmacher. Bankkaufmann, Schüler, Lehrling, Arzthelferin, Verkäuferin, Sekretärin, Hausfrau ... „Sie hat recht", kommentiert der amtierende Vorsitzende den Ausbruch, und mehr eilig als eifrig schustert man Geselliges für das Sonntagstreffen zusammen. Dann bekommt der Vertreter vom Stadtjugendring das Wort. Eine zweitägige Rede-und-Diskussions-Schulung und ein Jugendleiterausflug am übernächsten Wochenende seien geplant. Wie bitte, wieder mal wolle keiner mitmachen? Also so ginge das ja nun wirklich nicht! Außerdem gäbe es neue Filme für die Jugendarbeit. Als er die Titel verliest und auf eine Sichtveranstaltung hinweist, platzt einem der Zuhörer der Kragen: „Mensch", sagt er, „für solche Filme interessiert sich doch keiner. Viel zu anspruchsvoll. Weißt doch, was die sehen wollen ..." Die Runde nickt verständnisvoll, drängelt, Schluß zu machen. Man hat den ganzen Tag geschuftet. Im Beruf und teilweise noch im Sanitätszelt. Nun ist genug. Inge zwängt sich noch mit einer Anmerkung in den allgemeinen Aufbruch. Sie will von der Hochzeit der Kameradin X mit dem Kameraden Y berichten, an der sie als offizielle Delegierte der Jugendrotkreuzler teilnahm. „Schön war sie ja, die Braut", so schildert sie das Ereignis, „aber die kirchliche Trauung, das war ein Ding! Zehn Minuten Ansprache vom Pfarrer, keine Orgel, kein Lied, nix. Alles ganz sachlich, kühl, kurz." Das findet sie doof. Das sei doch keine Hochzeit, meint sie, da könne man doch gleich „auf den ganzen Zirkus" verzichten - oder? Das Echo ist unbestimmt. Die Stammkneipe ruft. Man will zum gemütlichen Teil übergehen. Als Gast einer solchen Sitzung, der Frage nachspürend, was das Jugendrotkreuz eigentlich sei, erfährt man nicht eben Erschöpfendes. Immerhinin: Ein paar der Kameraden kramen Papiere zusammen: Zeitschriften,
Leitsätze, Faltblätter, Broschüren. Teils für die Jugendlichen, teils für die Jugendleiter. Wie heißt es da? „90 Millionen Jugendliche in 106 Ländern der Erde arbeiten an der Verwirklichung der Grundsätze des Roten Kreuzes: Menschlichkeit, Unabhängigkeit, Neutralität, Unparteilichkeit, Freiwilligkeit, Einheit, Universalität." Zur Zeit, so ist zu erfahren, gibt es in der Bundesrepublik 2700 Jugendrotkreuz- Gruppen mit 51 000 Mitgliedern zwischen 10 und 25 Jahren. Außerdem ist man „im schulischen Bereich tätig ... bietet sein Gedankengut und seine Zielvorstellungen der Schule an . .. und eröffnet soziale Ubungsfelder". 280 000 Schülerinnen und Schüler sowie 3200 Lehrer gehören dazu. Die Arbeit? Allem voran: Erste-Hilfe-Kurse. Dann Schulsanitätsdienst, häusliche Krankenpflege und Sport auch Hilfsdienste in Krankenhäusern und Heimen, politische Bildungsarbeit, Rettungsschwimmen, V erkehrserziehung und Ausbau der internationalen Kontakte. Letztere pflegt man mittels sogenannter Faltschachteln anzuknüpfen, seit eh und je, vielleicht schon seit 1925, als das Jugendrotkreuz als Ableger der „Vaterländischen Frauen vereine des Roten Kreuzes" entstand.

Hygiene-Schachtel

Die Faltschachteln, gefüllt mit hygienischen Grundbedarfsartikeln für jeweils eine Person, pünktlich in Katastrophen-Gebieten und neueren Datums in Entwicklungsländern eintreffend, sind inzwischen ins Zwielicht geraten. „Es wäre sinnvoll", so schreibt Kameradin Ursula T. in einem Erlebnisbericht aus Dahomey, „wenn an Stelle von Zahnbürste und Zahnpasta ein Hemdchen oder eine kurze Hose hineingelegt würde. Die Zähne säubern sich die Afrikaner ohnehin mit Holzstückchen einer bestimmten Baumart." Überhaupt wäre manche Tradition abzulegen. Viele der alten Grundsätze aus Henry Dunants Zeiten (Begründer des Roten Kreuzes 1863, nach Erlebnissen bei der Schlacht von Solferino 1859) machen den Jugendrotkreuzlern zu schaffen. Der ständige Ruf nach Sauberkeit und Ordnung zum Beispiel, der Appell an „gesundes Leben", das Preisen der Schönheiten der Natur, völkische Töne und simple Lebensregeln: „Schlägereien vermeiden, besondere Vorsicht bei Brillenträgern". So die Faustregeln für den Gruppenleiter. So dann auch Bernd Schmidt, Landesleiter des Jugendrotkreuz Westfalen-Lippe, in einem Interview: „Wir werden noch gemessen mit den idealistischen jugendbewegt-antiquierten Maßen einer damaligen wirklichkeitsfremden pädagogischen Meinung ... Unsere Arbeit heute muß Emotionalität und Rationalität miteinander verbinden." In Wort und Schrift legt man es den Gruppenleitern im Moment nahe, sich weniger mit sauberen Fingernägeln als vielmehr mit dem Thema „Umweltverschmutzung" zu befassen. Fragen des Konsumverhaltens stehen ebenso auf dem Programm wie Probleme der Suchtkrankheiten, der Entwicklungshilfe und der Arbeit mit Behinderten, Alten, Ausländern, Randgruppen. Wie
war kürzlich im Gießener Anzeiger unter der Überschrift „Ein Weg für sinnvolle Freizeitgestaltung" zu lesen? „Der Name Jugendrotkreuz", so hieß es dort, „mag für viele Jugendliche und auch Erwachsene abschreckend klingen. Nur allzugern denkt man an eine vielleicht schon verstaubte und eingemottete Organisation. Die Leute dort lernen doch bestimmt nur, wie sie sich später bei Einsätzen des Deutschen Roten Kreuzes richtig zu verhalten haben. Aber das ist nicht so." Wie es freilich auch ist, zeigte sich zur selben Zeit in Saarbrücken. Dort wollten sich Funktionäre des Jugendrotkreuzes für ein neues Arbeitsgebiet stark machen und eine Aktion zur Betreuung gefährdeter und vereinsamter Jugendlicher starten. Die Aktion fiel mangels Interesses ins Wasser. „Was soll's", sagten die eigenen Verbandsmitglieder. Auf Gähnen stieß der Versuch, mit den anderen Jugendverbänden in dieser Sache zu kooperieren. Zitat aus der Zielsetzung des Deutschen Jugendrotkreuzes: „Das Jugendrotkreuz gibt der Jugend Gelegenheit zur gesellschaftlichen Mitverantwortung und trägt zur internationalen Verständigung und Kooperation bei. Aus der Verantwortung für die eigene Person erwachsen sö Verständnis, Toleranz und die Bereitschaft zum verantwortlichen Handeln." Bis das erreicht sein wird, hat das Jugendrotkreuz noch allerhand Staub abzutragen. Aber warum sollte es ihm bessergehen als den anderen Jugendverbänden?

Der Artikel erschien in der Rubrik "Zur Diskussion gestellt" in der Zeitung Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 33 am 19. August 1973.