Mitleid - Mitleiden

In diesem Artikel geht es nicht um Mitleid im herkömmlichen Sinn. Etwa wenn einem Behinderten auf der Straße DM 5 in die Tasche gesteckt werden.

Gert Gruber
2/1980

Hier soll es wirklich einmal um die Auseinandersetzung mit dem Mitleid innerhalb der Partnerschaft von Behinderten und Nichtbehinderten gehen.
Es gibt immer mehr Gruppen und Clubs von Behinderten und Nichtbehinderten, die an Clubabenden oder auf Freizeiten nach einem neuen Zusammenleben suchen. Es ist ganz natürlich, daß dies nicht immer so klappt, wie wir es uns vorstellen.
Hierzu einige kleine Beispiele, denen wir immer wieder begegnen:

Ein Behinderter lädt einen nichtbehinderten Partner in ein Popkonzert ein. Der Nichtbehinderte ist zwar nicht an Pop interessiert, was der Behinderte nicht weiß, sagt aber zu, um den Behinderten nicht zu verletzen. Bei einer Freizeit, die einige Tage dauert, kommt es oft vor, daß man bis in die späte Nacht zusammensitzt. Jeder geht, je nach Müdigkeit, ins Bett. So geschieht es, daß ein Nichtbehinderter zwar sehr müde ist, aber auf einen Behinderten lange warten muß, weil dieser beim Zubettgehen Hilfe benötigt. Der Nichtbehinderte wagt nicht zu sagen, daß er gerne schon schlafen gehen möchte.

Ein Behinderter fragt bei einem Mädchen um eine Freundschaft an. Sie geht diese Freundschaft aus Mitleid ein, um nicht ablehnen zu müssen. Sicher wirkt dies auf den ersten Blick sehr wohlwollend, wenn nicht asketisch, sich auf diese Weise mit dem Behinderten anzufreunden. Man muß sich nun fragen, hilft man damit dem Behinderten wirklich? Kann so der Behinderte seine Möglichkeiten und Grenzen erkennen, und ist so \J ein partnerschaftliches Miteinander gegeben? Erfährt ein Behinderter nie, wie er bei seinem Partner dran ist, kann er nie soziale Defizite, die er logischerweise sehr oft aus seiner Isolation mitbringt, abbauen.

Echtes Miteinander heißt doch Offenheit zueinander. Beide Seiten müssen ihre Bedürfnisse äußern können. Ebenso hilft man dem Partner in keiner Weise, wenn man Konflikte verschweigt, statt sie offen auszusprechen. Wenn Nichtbehinderte glauben, den Behinderten schützen zu müssen und ihn ja nicht mit einer gesunden Auseinandersetzung zu konfrontieren, ist dies dasselbe Mitleid, wie wenn man ihm fünf Mark in die Tasche steckt.
Einen guten Ansatz für partnerschaftliches Miteinander könnte neben anderen Möglichkeiten auch die christliche Botschaft geben. Leider machen dies die Kirchen nicht immer deutlich. Trostspenden und Hausbesuche einmal im Jahr reichen nicht aus. Ihre Devise dem Behinderten gegenüber lautet: »Haltet aus«. Hingegen hat Jesus ganz andere Dinge gefordert. Er wollte seine »Behinderten« nicht nur trösten, sondern Hilfe zur Veränderung geben. Seine Devise lautet »Steh auf und geh, mach das Beste aus deinem Leben«. Sicherlich bedeutet dies nun nicht, daß wir von unserem Rollstuhl aufstehen sollen, sondern er fordert uns auf, all unsere Möglichkeiten auszuschöpfen.
Dieses Ausschöpfen geht aber nur im Miteinander mit anderen. Hierfür benötigen wir ein partnerschaftliches Mitleiden. Es will den anderen nicht trösten, sondern echt unter die Arme greifen. Es fordert auf zu einem Stück gemeinsamen Weges. Auf diesem Weg hilft man dem anderen, sich mit seiner Situation positiv auseinanderzusetzen. Dazu gehört es auch, den anderen zu fordern und nicht nur »Ja und Amen« zu sagen. Fordern heißt auch, daß sich der Nichtbehinderte mit seinen Problemen einbringen kann. Eine Partnerschaft wird gestört, wenn es immer nur um einen der beiden geht. Der Behinderte soll genauso mittragen, hierin liegt ein großes Stück Daseinsberechtigung des behinderten Menschen.
Er hat viele Möglichkeiten, seinen Beitrag auf geistigem und seelischem Gebiet für den anderen mitzutragen. Dies ist besonders wichtig in einer Gesellschaft, in der so manches schiefläuft. Deshalb dürfen wir nicht geschont werden. Alle sind aufgefordert, ob behindert oder nicht, bei dem anderen mitzutragen und mitzuleiden. Dies trägt bei uns Behinderten dazu bei, unser Dasein viel besser zu akzeptieren.
Stefan Zweig verdeutlicht in seinem Buch »Ungeduld des Herzens« die zwei Arten von Mitleid in eindrucksvoller Weise: »Es gibt eben zweierlei Mitleid: das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungedüld des Herzens ist, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das gar nicht mitleiden ist, sondern nur die intuitive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele.
Und das andere, das einzig zählt, das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles durchzustehen, bis zum Letzten seiner Kraft und noch über das Letzte hinaus.