Behinderte Jugendrotkreuzler

Echte Integration am Beispiel einer Münchner Jugendrotkreuzgruppe

Georg Soller
4/1981

„Was machen wir denn heute?" fragte Norbert, als er sich niedersetzte. „Kommt da nicht dieser Pressefritze, mit dem wir diskutieren sollen?" Schmunzelnd höre ich zu. Er hat noch nicht bemerkt, daß ich bereits am Tisch sitze. Norbert ist nämlich blind. Und Jugendrotkreuzler. Deshalb bin ich der Einladung der Münchner JRK-Gruppe „Bergkristall" gern nachgekommen, einmal zu erleben, wie es in einer Gruppe mit behinderten Jugendrotkreuzlern aussieht.
Neben dem 19-jährigen Norbert, der seit Ende 1979 bei der Gruppe ist, macht auch noch die 16-jährige Krista, die durch eine Muskelkrankheit auf den Rollstuhl angewiesen ist, seit Anfang dieses Jahres bei „Bergkristall" mit. Wie sie denn dazugekommen wäre, frage ich und schau erst einmal die Krista an. „Na, durch die Michaela", sagt sie und wirft einen bedeutungsvollen Blick zu ihrer Nachbarin. Und dann beginnen sie, gemeinsam zu erzählen.

Nur noch ein Platz frei

Die beiden hatten sich im Konfirmandenunterricht kennengelernt - und dort auch nur durch Zufall: Weil die Michaela beim ersten Mal etwas zu spät gekommen war, war nur mehr der Platz neben der Krista frei (!). Nachträglich gesehen, meinten die beiden, daß sich daraus nicht unbedingt Freundschaft auf den ersten Blick entwickelt hat. Die Krista stellte sich als ein etwas schwieriger Typ heraus. Zudem hatte sie der Pfarrer, der den Unterricht veranstaltete, durch ein ungeschicktes Manöver in eine von ihr als unmöglich empfundene Situation gebracht, daß es ihr „ohnehin schon reichte".

In die Gruppenstunde mitgenommen

Irgendwie hat es dann trotzdem gefunkt. Und irgendwann hat die Michaela dann gefragt, ob die Krista nicht einmal in die Gruppenstunde zum Jugendrotkreuz mitkommen wolle. Zuerst wollte sie nicht - sie ist immer noch schüchtern - aber als sie hörte, daß in der Gruppe bereits ein anderer Behinderter fröhlich mitmischt, faßte sie sich ein Herz. Und jetzt gehört sie auch dazu. Vielleicht wäre das nicht so gekommen, wenn der Norbert nicht „Vorarbeit" geleistet hätte.
Er hatte mit dem Jugendrotkreuz bereits Kontakt durch die Blindenschule bekommen, als die JRKIer dort Discos veranstalteten. Eines Abends fragte er die Gruppenleiterin, die übrigens auch Michaela heißt, ob sie denn keine Jugendgruppe für ihn wisse; er müsse nämlich aus dem Internat, da er ausgelernt habe, und suche jetzt Anschluß an andere Jugendliche. Natürlich hat sie ihn zum Jugendrotkreuz eingeladen, und da ist er bis heute geblieben.

Keine Vorrechte für die Behinderten

Entscheidend dafür war wohl, daß sowohl die Gruppe wie auch Norbert nach und nach lernten, die Situation als normal zu empfinden. Es galt bei den Jugendrotkreuzlern von vorneherein als ausgemacht, daß der Behinderte keinerlei Vorrechte aufgrund seiner Behinderung haben sollte. Und sie hielten sich daran, auch wenn es manchmal schwerfiel.
So mußte sich Norbert seinen Weg vom Gruppenraum zur Trambahn Haltestelle am Anfang ganz allein suchen. „Das war 'n dolles Stück", meinte er, und er erinnert sich daran, daß er damals ganz schön sauer war. Aber er fand so zu Selbständigkeit.
Und seine Freunde vom Jugendrotkreuz hatten daran auch ihren Anteil, daß der „unsichere Typ aus dem Blindenheim" heute ganz schön selbstbewußt ist, einen eigenen Haushalt führt und einen Arbeitsplatz gefunden hat.

Wie geht das mit dem Blindenstock

Der Übergang, wo der Neue vom interessanten Mittelpunkt zum gewöhnlichen Mitglied wurde, erforderte ein erneutes Umdenken Norberts. Interessierten sich die Anderen am Anfang zum Beispiel für seinen Blindenstock, konnte er ihnen etwas von der Blindenschrift erklären, so wurde er allmählich in die Ecke gestellt. Aber dann hat er sich halt aufgerafft und von sich aus mitgemacht. Das Eis war gebrochen. Interessant ist auch die Geschichte, als selbst Norberts Eltern nicht recht an die Selbständigkeit ihres Sohnes glauben mochten. Sie wollten ihn gerade vom Pfingst-Zeltlager abholen, als sie beobachteten, wie der Junge in der Gruppe umherlief, über Stock und Stein — und vor allem ohne Führung. Das hatte die Mutter damals etwas aus der Fassung gebracht.

Schlafplatz selbst hergerichtet

Vielleicht hätte es sie noch mehr verunsichert, hätte sie Norberts Ankunft miterlebt. Als er die Anderen fragte, wo er denn schlafen solle, erhielt er zur Antwort: „Such dir halt was". Und dann ließen sie ihn stehen und suchen und halfen ihm nicht einmal, als er in ein verkehrtes Zelt lief. Aber am Ende hatte er seinen Schlafplatz wie jeder andere auch selbst hergerichtet. „Auch wenn er am Anfang ganz schön dumm geschaut hat", erzählte einer schmunzelnd.
Gerade Fahrten und gemeinsame Unternehmungen, so ist man versucht zu denken, stellten besondere Probleme an Gruppen mit behinderten Jugendrotkreuzlern. Aber auch dazu ist der Widerspruch aus der Diskussionsgruppe groß. „Wenn wir was machen, dann machen das alle. Du glaubst gar nicht, was man zum Beispiel mit dem Rollstuhl alles machen kann."

Was es bedeutet blind zu sein

Zum Beispiel eine Fahrt auf eine Berghütte. Dort hatten sie einmal etwas Besonderes erlebt. Krista war zwar noch nicht bei der Gruppe, aber das Erlebnis mag Ihr Einleben später erleichtert haben, weil damals die Nicht-Behinderten eine ganz besondere Erfahrung gemacht hatten. Wie immer machten sie Spiele aus der Situation heraus. Gerade zuvor hatte einer über den Norbert gefrozzelt, der tagsüber über ein paar Steine gestolpert war. Da beschloß die Michaela, daß alle einmal sehen sollten, was es bedeutet, blind zu sein. So mußten sich alle die Augen verbinden, dann wurden Paare gebildet, wieder getrennt und die mußten sich schließlich wieder finden. Dabei ging manch einem ein Licht auf.
Was sie für die nächste Zeit vorhaben, ist ein Rollstuhlfahren mit gesunden Leuten. Es ist nämlich auch nicht so einfach. Fügte die Krista an: „Da sollten vielleicht auch einmal Architekten mitmachen, damit sie bei der Konstruktion ihrer Häuser etwas besser aufpassen."

Krista: Architekten sollten auch mal Rollstuhl fahren

Aufzug für Rollstuhl zu klein

Sie spürt das schon. Mit ihrem Elektro-Rollstuhl kommt sie nicht in den 3. Stock des Gebäudes vom Kreisverband München. Einen normalen selbst anzuschieben, dazu reicht ihre Muskelkraft nicht. Deshalb ist sie bei den Gruppenstunden auf Michaelas Hilfe angewiesen. Da trifft es sich besonders gut, daß die beiden kürzlich entdeckten, daß sie nur um die Ecke wohnen. Trotz dieser kleinen Hilfen ist auch sie selbständig und wird von der Gruppe auch so gesehen. Sie hatte am Anfang Angst vor den vielen neuen Gesichtern, Angst ob dahinter auch wieder nur Vorurteile verborgen waren. Und als sie dann die rauhe Wirklichkeit im „Bergkristall" spürte, da war sie froh, „daß die keine Rücksicht nehmen."

Während des Gesprächs erzählte Norbert auch von einer besonders fiesen Variante des Betrugs. Es gibt da Freaks, so erzählt er, die sich beim Behinderten einschmeicheln und diesen dann, nachdem sie das Vertrauen gewonnen haben, das Geld aus der Tasche stehlen. Ein Kommentar zu derlei Treiben erübrigt sich.