Mit den "Tschernobyl-Kindern" unterwegs auf dem Main

Die Schiffsfahrt auf dem Main von Ochsenfurt nach Kitzingen am 28. Mai ist einer der Höhepunkte für 79 ukrainische Kinder und Jugendliche während ihres vierwöchigen Erholungsaufenthalts in Creglingen. Beim Anlegen unterwegs in Volkach winken sie den am Ufer Wartenden zu, einige wagen den Sprung zum Ufer, noch bevor die MORITZ festgemacht hat.

Gabriele Leifermann
3/1991

Vom Anleger geht es in Richtung Rathaus zur Begrüßung durch den Bürgermeister und den in historischem Gewand auftretenden "Ratsherrn".

Die Kinder, zwischen 6 und 15 Jahre alt, toben und lachen, viele haben die aus Luftballonschlangen gefertigten Mäuse, Katzen , Giraffen und anderes Getier noch in der Hand, die ein Zauberer ihnen am Vormittag ganz nach Wunsch Silasen hat. Ein Spielzeug von nur kurzer Lebensdauer, denn natürlich macht es einigen Kindern Spaß, die Figuren mit lautem Knall platzen zu lassen.

Zurück am Schiff wird Sozialstaatssekretärin Barbara Stamm mit ukrainischen Liedern und sogar einem deutschen Lied begrüßt. Frau Stamm, gleichzeitig Vizepräsidentin des BRK, will selbst mit den Buben und Mädchen sprechen und einen persönlichen Eindruck gewinnen, denn dieser vom BRK organisierte Aufenthalt wird mit rund 185.000 DM aus dem Sowjetunion-HilfeProgramm der Bayerischen Staatsregierung finanziert.

Als wir die Schleuse Kitzingen ansteuern, sitze ich mit Tanja (10 Jahre), Eugen (10), Ira (11), Tamara (10), Axanja (12), Eugen (10) und Lidia Michajlowna Klimova, ihrer ukainischen Betreuerin, zusammen. Bereitwillig erzählen die 6 Mädchen über das, was sie nach der Katastophe, damals am 26.04.1986 in der Nacht vom Freitag auf Samstag, erlebt haben und wie sich seither ihr Leben verändert hat. Es geht etwas stockend, aber das liegt wohl in erster Linie an den Unterbrechungen, die durch die Übersetzung von Lidia Michaj lowna bedingt sind.

Alle Mädchen wohnten in Pripjat, einer Stadt mit rund 50.000 Einwohnern, die Anfang der 70er Jahre mit dem Beginn der Bauarbeiten am Reaktor von Tschernobyl entstand und nur 4 km von diesem entfernt liegt. Axanja, damals 7 Jahre alt, erinnert sich, daß die ganze Familie in der Nacht von der Großmutter geweckt wurde.

Irgendetwas war im Reaktor geschehen, aber niemand wußte Genaues. Am nächsten Tag bekam jeder in der Schule 1 Tablette. Abends war sie noch mit den Eltern und Geschwistern an den Fluß gegangen. Erst am darauffolgenden Tag mittags kam über Radio die Nachricht, daß die Bevölkerung in den Wohnungen bleiben müsse. Später folgte der Aufruf zur Evakuierung, Lebensmittel und Bekleidung sollten für eine 3-tägige auswärtige Unterbringung zusammengepackt werden. Per Bus sind sie in einen Ort in ca. 20 km Entfernung gebracht worden. Doch aus den 3 Tagen wurden 6 Wochen und in dieser ersten Phase der Evakuierung hat es an vielem gefehlt, auch das mitgenommene Geld war viel zu knapp. Inzwischen wohnt Axanja mit ihrer Familie in Kiew. Der Vater, der im Kernkraftwerk tätig gewesen war, hat seit dem Unglück eine stark vergrößerte Schilddrüse.

 

Ira erzählt, daß sie am Tag nach der Katastrophe draußen im Sand spielte. Ihr Bruder und dessen Freund hatten Rauch beim Reaktor gesehen und gemeinsam mit ihr durch ein Fernglas geschaut, aber nichts erkennen können. Ihre Mutter und die Nachbarn seien in sehr großer Unruhe gewesen, sie selbst hätte viel Angst gehabt. Der Vater war als Bauarbeiter am Kernkraftwerk tätig. Ohne Nachricht von ihm wurden sie evakuiert, zunächst kamen sie bei Bekannten in der Nähe unter, später bei der Großmutter in Kiew. Der Vater hat eine hohe Strahlendosis erhalten und sei seitdem viel krank.

 

Jana (12) stößt erst etwas später zu der Gruppe. Sie wirkt teilnahmslos, macht einen bedrückten Eindruck, schaut, während sie erzählt, zur Seite. Ihre Mutter hatte am Abend der Katastrophe Schichtdienst. Danach ging es der Mutter so schlecht, daß sie sofort zu einer einmonatigen Spezialbehandlung nach Moskau geflogen wurde. Verschiedene Kollegen, die mit ihr zusammen gearbeitet hatten, sind inzwischen nicht mehr am Leben. Die Mutter darf seitdem nicht mehr im Kraftwerk arbeiten, während ihr Vater, wie andere Väter auch, weiterhin dort tätig ist. Jetzt gibt es einen je 15tägigen Arbeits- und Ruherhythmus: 15 Tage Arbeit am Kernkraftwerk, 15 Tage Erholung zuhause.

Ich frage Jana, was ihr beim Aufenthalt in Deutschland bisher am meisten gefallen hat: Der Ausflug nach Rothenburg, die schöne Stadt, die alten Häuser, die sauberen Straßen... Aber auch bei dieser Erinnerung wird kein Lächeln erkennbar, verändert sich ihr Gesichtsausdruck nicht.

Welche Ängste müssen in ihr stecken, wie lange wird sie brauchen, sie zu verarbeiten? Mein erster Eindruck von der fröhlichen Kindergruppe in Ferienstimmung relativiert sich zunehmend und ich sehe, daß auch andere Kinder nicht an den Spielen teilnehmen, in sich gekehrt wirken, sehr still sind.

Ein großer Teil der Kinder, die heute auf der MORITZ die Mainfahrt unternehmen, hat bis zur Katastrophe im näheren Umkreis von Tschernobyl gelebt und war bei dem Reaktorunfall einer außerordentlich starken radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Krankheiten wie Störungen des Immunsystems, Veränderungen der Schilddrüse oder des Blutbildes sind mögliche Folgen. Einzelne Auswirkungen dieser Schäden auf die Kinder werden für die Betreuer sichtbar bzw. spürbar: Insgesamt sind sie körperlich recht anfällig und Dauerbelastungen wie z.B. einer größeren Wanderung kaum gewachsen. Gehäuft treten Kopfschmerzen und Hautallergien auf. Aber auch die Konzentrationsfähigkeit scheint geschwächt.

Ich frage mich, was auf diese durch das Reaktorunglück Betroffenen noch alles zukommen wird, welche Langzeitschädigungen möglicherweise noch auftreten und vor allem, ob bei später auftretenden Krankheiten oder in zukünftigen Notsituationen auch immer geeignete Hilfen zur Verfügung stehen werden.

Viel Hilfsbereitschaft hat der Aufenthalt der ukrainischen Gruppe bei der Bevölkerung in Creglingen und Umgebung ausgelöst. Initiiert von den evangelischen und katholischen Kirchengemeinden kamen etliche Spenden zusammen: Kleidung, Spiele, Comics, aber auch Geldspenden. Große Unterstützung kam auch vom BRK Bezirksverband Unterfranken und seinen Kreisverbänden sowie dem örtlichen RKKreisverband.

 

Als Dankeschön wurde die Bevölkerung zu einer selbstgestalteten Veranstaltung eingeladen: Ein "bunter Nachmittag" mit Liedern in ukrainischer und deutscher Sprache, Gedichten, Klavierspiel, Sketchen u.a. Großes Engagement kam ganz unerwartet von medizinischer Seite. Eine Zahnärztin, im akuten Fall zur Zahnbehandlung herangezogen, wurde auf diese Weise auf die Gruppe aufmerksam und erklärte sich spontan zur kostenlosen Untersuchung und ggf. Behandlung aller Kinder an ihren freien Nachmittagen bereit. Spendabel zeigte sich auch eine ortsansässige Firma: Sie lud kurzerhand zu einem großen Kinderfest ein und übergab den Erlös aus den Eintrittsgeldern an die Gruppe.

Bleibt zu hoffen, daß das Ziel dieser Erholungsaufenthalte, die Gesundheit der Buben und Mädchen zu stabilisieren und die Widerstandskräfte zu stärken, erreicht wird. Und daß sie, angeregt durch viele Erlebnisse und Erfahrungen, neuen Mut fassen.