Flüchtlinge unter uns - eine bosnische Familie in Niederbayern

Viele Taten und Ereignisse aus dem Bürgerkrieg in Bosnien sind in Vergessenheit geraten, weil immer neue Schreckensmeldungen die genaue Erinnerung daran verdrängt hat.

Birgit Steffens
4/1992

Zum Beispiel: Karlovac am 25. Juli 1992. Diszipliniert warteten tausende von Menschen, darunter Kinder, Alte und Gebrechliche, auf die Rotkreuz-Züge, die sie aus ihrer Heimat Kroatien ins ferne Deutschland bringen sollen. Zum Glück war die Front, die nur drei Kilometer entfernt lag, an diesem Tag ruhig, aber die Menschen litten unter den Temperaturen über 30 Grad Celsius. Unter den Flüchtlingen, die in ein Durchgangslager in Nürnberg gebracht werden sollten, war die Familie Velic, Irtan (21), Jasmina (19), ihr viermonatiges Söhnchen Faris und Irfans Schwester Elvedina Veladzic (17).

Was wurde aus den Flüchtlingen

Als der Transport einen Tag später in Nürnberg eintraf, hatte die Familie keine Ahnung, was aus ihr werden sollte. Einige Familien und Bekannte, die sich im Zug zusammengefunden hatten, wollten sich nicht mehr trennen und zogen es vor, in staatliche Unterkünfte zu ziehen. Die Velics hatten Glück und konnten gemeinsam untergebracht werden. Schon drei Tage nach ihrer Ankunft konnten sie zu der sechsköpfigen Familie Wittkowsky im niederbayerischen Ort Weihmichel ziehen, bei denen sie nun schon mehrere Monate leben.

einige Wochen später

Trotz Sprachbarriere und trotz reichlich beengter Wohnverhältnisse - die Velics teilen sich ein Zimmer - haben die Gäste sich rasch eingewöhnt. Irene Wittkowsky, die schon im letzten Winter auf die Idee kam, Flüchtlinge aufzunehmen, stellte sich ganz auf die Velics ein - auch beim Essen, denn die Gäste dürfen als Moslems einige Nahrungsmittel nicht zu sich nehmen. Der Haushalt, der früher aus sechs Personen bestand, ist auch jetzt bestens durchorganisiert: Irene wechselt sich mit Jasmina beim Kochen ab: "Es ist auch mal ganz schön, die bosnische Küche kennenzulernen." Irfan hilft bei allen anfallenden Arbeiten im Haus. Bei den vier Kindern der Wittkowskys - alle im Alter von zwei bis sieben Jahren - ist der junge Mann als Spielkamerad hochgeschätzt.

Alltagsprobleme

Irene Wittkowsky erledigt für die Velics alle amtlichen Dinge und wurde anfangs täglich auf dem Ausländer - bzw. Sozialamt vorstellig, um die finanzielle Situation der Flüchtlinge zu klären. Als Kontingentflüchlinge, die auf Beschluß der Bundesregierung hierherkamen, haben die Velics ein Anrecht auf Sozialhilfe. Anstatt Asylbewerbern, die hundert Mark im Monat erhalten, gleichgestellt zu werden, erreichten die Velics mit Hilfe von Irene Wittkowsky in zähen Kämpfen eine Besserstellung, die es ihnen ermöglicht, Kostgeld zu zahlen. Die Sprachbarriere bildete für das Kennenlernen der beiden Familien übrigens nie ein Problem. Bei allen Gesprächen diente bisher ein kroatisch-deutsches Wörterbuch als Verständigungshilfe. Einen Dolmetscher sahen die Wittkowkys zum erstenmal, als ein Fernsehteam bei ihnen zwei Tage lang Aufnahmen für einen Dokumentarbericht machte. Für Irfan erwiesen sich die mangelnden Sprachkenntnisse allerdings als Problem - mehrere Arbeitgeber lehnten ihn deswegen ab, als er sich bei ihnen bewarb. Inszwischen besucht er einen dreimonatigen Sprachkurs an der Volkshochschule und hofft, nach Abschluß bessere Chancen haben.

Von Kleinstädtern zu Vertriebenen

Zu Hause in dem bosnischen Örtchen Bosanski Novi machte Irfan eine Lehre als Elektromechaniker, arbeitete dann aber als Kellner und zuletzt als Lagerarbeiter. Diese Arbeit verlor er, weil sein Chef keine Moslems mehr beschäftigen wollte. Dies war nur eine der Repressalien, die Irfan und mit ihm die meisten Moslems in Bosnien, seit Einmarsch der serbischen Armee zu erdulden hatten und haben. Relativ nüchtern erzählt Irfan, daß die Einheimischen beim Einkaufen plötzlich eine Art Personalausweis vorzeigen mußten und Moslems keine Nahrungsmittel mehr erhielten. Yasmina floh mit dem zwanzig Tage alten Baby zu Verwandten nach Zagreb, während Irfan sich zwei Monate versteckt hielt. In der Zeit begannen die Serben, Lager einzurichten, in denen sie Menschen allen Alters, vor allem die moslemische Bevölkerung, internierten. Auch Irfan und die Mehrzahl seiner männlichen Verwandten kamen in Internierungslager - und lebten dort unter schrecklichsten Bedingungen. Irfan erzählt, daß täglich Menschen ausgewählt und von den serbischen Bewachern exekutiert wurden. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war unzureichend - die Gefangenen in seinem Lager erhielten täglich nicht mehr als einige Brotscheiben. 54 Tage dauerte das Martyrium für ihn, dann kam er aufgrund einer UN-Intervention frei und folgte seiner Familie nach Zagreb. Yasmina ist ihre Verbitterung über die Vertreibung anzumerken. Früher hatte sie etliche serbische Freunde und Bekannte - daß das Zusammenleben mit ihnen plötzlich nicht mehr möglich war, kann sie kaum fassen. Sie hält es auch, genau wie Irfan, für ausgeschlossen, daß sie auf absehbare Zeit nach Bosanski Novi zurückkehren dürfen. Das Haus, das sie in dem 600-Seelen-Dorf besaßen, ist inzwischen abgebrannt. Wie Yasmina in einem Telefonat mit ihrer in Zagreb gebliebenen Schwester erfuhr, haben alle moslemischen Einwohner Bosanski Novi verlassen - vertrieben von den serbischen Besatzern, nachdem sie die Ernte eingebracht hatten. Tausende fliehen aus dem Gebiet von Karlovac in die UNSicherheitszonen und nach Kroatien, wo moslemische Flüchtlinge teilweise auch schon auf Ablehnung stoßen. Männer werden dort fast immer zur Armee eingezogen - häufig gegen ihren Willen wie ein Schwager der Velics. Nicht mangelnde Einsatzbereitschaft, sondern der Mangel an Waffen und Munition macht es vielen Männern, darunter Familienvätern, unverständlich, warum sie wieder nach Bosnien zurückkehren sollen, um zu kämpfen. Auch Irfan und seine Frau waren schon deshalb froh, nach Bayern ausreisen zu dürfen, weil Irfan auf keinen Fall unter den Umständen kämpfen wollte.

illegale und legale Flüchtlinge

Viele kommen aber nicht "legal" wie die Velics, sondern mit Touristenvisa und auf Einladung von Bekannten in Deutschland. Auch wenn sie das Aufenthaltsrecht genießen, erhalten sie doch keine Arbeitserlaubnis und müssen sich selbst um ihre Unterbringung kümmern. Theresa Wolkenhaar von der Arbeiterwohlfahrt, die viele Schützlinge im Raum Niederbayern betreut und als Dolmetscherin einspringt, kennt viele Fälle, wo die Unterbringung Probleme bereitet. Obwohl der Zusammenhalt von Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sehr groß ist, gibt es schwarze Schafe wie jener Gastwirt, der Mutter und Schwester auf die Straße setzte, weil sie sich nicht mit seiner Frau vertrugen. Andere fühlen sich völlig überfordert, wenn sie auf einmal mehrere Verwandte mitverköstigen und unterhalten müssen. In solchen Fällen springen Wohlfahrtsverbände ein und bemühen sich um Sozialhilfe, häufig auch um eine neue Unterkunft. Aber grundsätzlich gilt, daß wer Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu sich einlädt, für sie aufkommen muß. Und - in einigen Fällen haben Mieter auch schon Kündigungsschreiben erhalten, wenn sie ihre notleidenden Verwandten aufnahmen. Besser haben es die Kontingentsflüchtlinge. 1470 bosnische Flüchtlinge kamen in bislang zwei Transporten am 26.07. und 19.08.92 nach Nürnberg rund 3500 wurden über das übrige Deutschland verteilt. Das Mitgefühl der Bevölkerung diesen Flüchtlingen gegenüber war unerwartet groß. Fast keine Probleme gab es bei der Unterbringung von kleinen Gruppen - 100 Personen konnten bis Ende August privat in Mittelfranken untergebracht werden, 35 in Oberfranken, einige auch in Oberbayern. Zahlreiche Männer fanden Arbeit als Mechaniker, Schweißer oder in der Gastronomie, die Kindergehen auf deutsche Schulen. Aber dennoch: Welche Zukunftsperspektiven aber haben sie? Sollen sie etwa in Deutschland aufwachsen, ihre Heimat völlig vergessen?

Zukunftsperspektiven

Jasmina und Irfan machen sich im Moment mehr Sorgen um die Gegenwart und ihre Verwandten, die zurückgeblieben sind. Das Überleben der Velics ist gesichert, sie erfahren nur freundliche Reaktionen in ihrer Umgebung, Nachbarn und Freunde der Wittkowskys sammeln Kleider und Gebrauchsgegenstände für sie, aber in Bosnien haben sie alles verloren. Nicht nur ihr Haus, die Häuser aller Vertriebenen wurden von serbischen Soldaten gesprengt. Dennoch versichern sie zweimal, daß sie unbedingt zurückkehren möchten, vielleicht auch in die Krajina. "Dann fangen wir ganz von vorn an", sagt Irfan zum Abschluß, bevor er sich aufmacht, um den Nachmittagskurs in der Volkshochschule zu besuchen. Die Velics haben sich auf ein längeres Warten eingerichtet.