Versumpft in Bayern

Samstagabend, 1. Juni 1996, auf dem Rot-Kreuz-Gelände in Deisenhofen vor den Toren Münchens.

Konrad Stock
Konrad Stock
2/1996

Nach dampfendem Pfannengyros für alle der 265 Teilnehmer starten die ersten zum Nachtorientierungslauf.
Letzte Vorbereitungen beim Aumühler JRK-Team: "Hast du genügend Kompressen?", fragt die 18jährige Ina Gerken ihre Team-Kollegin Stefanie Schmidt. Christoph Swinka tritt ins Zelt: "Los, schon 10 Minuten nach halb acht".
"Die Gruppe aus Aumühle bitte zum Start", krächzt es aus den Lautsprechern. Jetzt wird es ernst; die Hamburger sind die dritten der insgesamt 42 Gruppen, die zum über 20 Kilometer langen Nachtorientierungslauf aufbrechen.
Am Start steht ein umgebauter Rettungswagen der Bereitschaft Deisenhofen.
Koordinator Berni wartet im Wageninneren. "Der erste und der letzte von euch muß immer eine Warnweste tragen", erinnert er, "vergebt auch nicht, eure Taschenlampen einzuschalten und haltet euch an die Wege!"
Die Strecke führt über insgesamt 13 Stationen mit über 100 Schiedsrichtern, die Verpflegung, Geschicklichkeitsspiele und Erste-Hilfe-Aufgaben bereit halten.
Der Weg ist den Teilnehmern unbekannt. An jeder Station gibt es immer nur Instruktionen für den nächsten Streckenpunkt, allerdings mehr wie eine Schatzkarte, also mitdenken!
Gruppenleiterin Christina Mackenbrock schleppt noch mehr Gepäck: einen Fragebogen zur gesamten Route, ein versiegelter Umschlag für den absoluten Notfall und genauestes Kartenmaterial, falls sich die Gruppe nach Methode "Hänsel und Gretel" trotz Kompaß und Orientierungssinn hoffnungslos im Wald verlaufen sollte.
Aus dem Rettungswagen geht's raus in den Regen. Die "Nordlichter" zurren ihre Rucksäcke und Regencapes fest, Taschenlampe und Kaffeetasse baumeln locker an einem Karabiner.
Nach gut fünfminütigem "Spaziergang" durch die Abenddämmerung taucht schon die erste Station auf. Hier gilt es, unter Zeitdruck 50 Fragen mit fundiertem Allgemeinwissen zu beantworten.
Im Wald: der ominöse "Adidas-Baum" wird als Ahornsprößling mit drei aufgemalten, weißen Streifen entlarvt, weitere Rätsel warten und das Team kommt gut voran
Beim Eintreffen auf der "Ersten-Hilfe"Station am Laufzorner Straßenrand schildert Björn die Situation: "Ein Motoradfahrer und seine Partnerin sind gegen den Baum da gefahren, jetzt seid ihr dran!" Noch völlig außer Atem leiten die Aumühler im strömenden Regen die Maßnahmen ein: Volker Arland rennt gleich mit dem Warndreieck los und sendet anschließend einen Notruf ab, das übrige Team nimmt den geschminkten "Pseudo-Verletzten" die Motorrad-Helme ab und versorgt ihre Wunden. Station drei, kurz vor 23 Uhr, fordert die ganze Geschicklichkeit der Teilnehmer. Aus zahlreichen Seilen ist zwischen zwei Bäumen ein "Spinnennetz"geknotet. Zum "Durchheben der Teilnehmer" ist viel Kraft und Mannschaftsgeist notwendig. Die Nordlichter erzielten bei diesem Spiel Sre' zenergebnisse.
Gegen zwei Uhr morgens erreichen die Aumühler den Deininger Weiher, ungefähr die Hälfte der Strecke. Die Kleidung ist langsam vollständig durchnäßt, auch die ersten Blasen und Hunger machen sich bemerkbar.
Wie gerufen kommt da Organisator Holger Krems zufällig mit dem Auto des Weges und bringt den müden Haufen mit Aussicht auf trockene Kleidung und Kartoffelsuppe in der nahen Verpflegungsstation wieder in Schwung. Viel Spaß hat das Team auf der KaraokeStation: zu zünftiger Musik von Hubert von Goisern müssen die Hamburger mitsingen, eine Videokamera dokumentiert alles.
Die Nacht ist angefüllt mit weiteren Aufgaben: Ein abgesprungener Jetpilot muß inmitten von Brombeergestrüpp und Riesenfarnen versorgt werden, das Rollstuhlbschick ist gefragt, und bergsteigerisches Rönnen muß bewiesen werden.
In der Morgendämmerung steigen leichte Nebelschwaden aus den Wiesen auf, das Gelände ist zunehmend von Felsen durchsetzt. "War das schon alles?", witzelt Gruppenleiterin Christina Mackenbrock. Nach fast 12 Stunden Marsch weichen Müdigkeit und Ärger über den Regen der Begeisterung, "sich selbst überwunden zu haben".
Noch 200 Meter zum Abholpunkt, dann geht es im warmen VW-Bus heim ins BRK-Zeltlager.
Auf der Heimfahrt kurze Manöverkritik: "Nur einmal standen wir etwas desorientiert mitten im Wald, der Rest lief sehr gut", resümiert Christoph Swinka.
Ankunft im Lager; schon drei Gruppen liegen fix und fertig in ihren Zelten.
Volker Arland charakterisiert die vorherrschende Stimmung treffend: "Duschen, Essen und Bett waren die innersten Wünsche von uns, denen man jetzt nachkommen kann - nur die Reihenfolge variiert je nach Teilnehmer."
Auch Organisator Holger Krems ist zufrieden: "Nur fünf Teams haben abgebrochen, das ist eine gute Bilanz. Sein besonderer Dank gilt vor allem den über 100 freiwilligen Helfern, die bei Wind und Regen praktisch die ganze Nacht im Wald verbrachten.
In der Disko klingt die Großveranstaltung dann mit Niki-Imitatorin und Bayern-Beat aus.
Sieger des Nachtorientierungslaufes werden das "Frankenquintett", gefolgt von den "Berliner Senioren" und den "Spessarträubern".
Das Aumühler Team - nach fünf Stunden Schlaf wieder vollständig erholt- hat den sechsten Platz errungen. " Hauptsache, es hat viel Spaß gemacht", meint Christina Mackenbrock dazu.
Die Heimreise traten die meisten der Teilnehmer erst am nächsten Tag an. Am weitesten hatten es die Jugendrotkreuzler aus Budapest.