"Nach der verlorenen Zeit...

ist es jetzt vielleicht zu spät!" singen Tocotronic. 1995. Vor 26 Jahren! 1995. Ein Jahr, in dem ich - zumindest nach üblicher Betrachtung - als Jugendlicher galt. Und um Jugend geht es auch in diesem Beitrag. Und um die verlorene Zeit. Denn viel hat sich verändert. In 26 Jahren. Aber vor allem in den vergangenen 15 Monaten. Auch ich stand damals kurz vor dem Abitur. Wie tausende Jugendliche heute. Ein Handy hatte ich nicht, sie waren schlicht noch Nischenprodukte. Und Smartphones gab es nicht. Wir hatten keine Corona-Pandemie. Und wir erlebten andere Dinge, als Jugendliche derzeit. Womit müssen junge Menschen heute umgehen? Und was brauchen sie womöglich? Und vor allem: was hat das mit dem Jugendrotkreuz zu tun?

Was geschieht hier gerade?

Die Pandemie und ihre Folgen sind für alle relevant. Jeder und jede spürt diese. Sie sind in ganz unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Zwei Studien zeigen auf, wie die  Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche sind. Diese repräsentativen Studien sind hierbei beispielhaft für derzeitige Forschungssettings in Deutschland zu den Themenkomplexen. 

COPSY-Studie zeigt psychische und psychosomatische Auffälligkeiten

Vier von fünf der befragten Kinder und Jugendlichen fühlen sich durch die Corona-Pandemie belastet. Und die Lebensqualität hat sich im Verlauf der Pandemie weiter für sie verschlechtert. Sieben von zehn Kindern geben in der zweiten Befragung (Dezember 2020 - Januar 2021) eine geminderte Lebensqualität an. Wie schon während der ersten Befragung (Juni 2020), leidet fast jedes dritte Kind auch zehn Monate nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten. Ängste und Sorgen haben bei den Kindern im Vergleich zu der ersten Befragung noch einmal deutlich zugenommen. Sie zeigen zudem häufiger depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden wie zum Beispiel Niedergeschlagenheit oder Kopf- und Bauchschmerzen.

In der COPSY-Studie untersuchen die Forschenden des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf die Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie auf die seelische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie haben für den zweiten Befragungszeitraum der als Längsschnittstudie angelegten Erhebung von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021 mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche und mehr als 1.600 Eltern mittels Online-Fragebogen befragt. Mehr als 80 Prozent der befragten Kinder und Eltern hatten bereits an der ersten Befrgung im Juni 2020 teilgenommen. Die 11 bis 17-Jährigen füllten ihre Fragebögen selbst aus. Für die 7-10-Jährigen antworteten die Eltern. Auch dieses Mal bilden die Befragten die Bevölkerungsstruktur von Familien mit Kindern von 7 und 17 Jahren ab.

JuCo2-Studie zum Jugendalltag

In zwei Studien zu „Jugend und Corona“ hat Sabine Andresen, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Universität Frankfurt, gemeinsam mit der Universität Hildesheim im März und November 2020 jeweils tausende Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 30 Jahren befragt, wie es ihnen im Auf und Ab der Pandemie geht. „Weil wir natürlich davon ausgegangen sind, dass ihr Alltag und ihr Wohlbefinden vermutlich erheblich beeinträchtigt sein wird durch die Infektionsschutz-Maßnahmen. Und wir hatten darüber hinaus den Eindruck, dass allenfalls über Jugendliche gesprochen wird, aber sie selbst und ihre Perspektive kaum einbezogen wird, dass es auch einen sehr negativen Diskurs über Jugend in der Öffentlichkeit gab, also Jugendliche als Regelbrecherinnen und Regelbrecher.“ Die Studien zeigen, dass es zwei Typen von Jugendlichen gibt. Die einen fühlten sich durch Kontaktbeschränkungen und Schließungen der Schule während des ersten Lockdowns erheblich eingeschränkt. Die anderen gewannen der Situation viel Positives ab: sie konnten ihre Zeit freier einteilen und mit Eltern und Geschwistern intensiver zusammen sein. Beim zweiten Lockdown allerdings überwog das Gefühl, sehr viel Zeit zu verlieren und in einer Art Dauerwarteschleife zu sitzen, resümiert Sabine Andresen die Ergebnisse der zweiten Studie, JuCo2. Sorgen und Ängste spielten eine große Rolle. „Interessant finde ich an diesen Ergebnissen von JuCo2, dass wir sehr deutlich sehen, wie hoch der Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist, die Angst vor der Zukunft haben, das ist fast die Hälfte. Die besonders Betroffenen von dieser Zukunftsangst sind Jugendliche, die auch finanzielle Sorgen haben. Der Anteil der Jugendlichen, die über finanzielle Sorgen berichten, ist auch gestiegen im Vergleich zur ersten Studie. Also hier macht sich schon die gesamte wirtschaftliche Situation auch bemerkbar.“

Die Pandemie bestimmt soziale Kontakte. Laut der Studie treffen sich viele Jugendliche online oder bei Spaziergängen nur mit einem Teil ihrer Freunde und Freundinnen. 28 Prozent fühlten sich von diesen häufiger und besser unterstützt. 45 Prozent gaben an, dass soziale Kontakte durch Corona abgebrochen seien. Weit mehr als die Hälfte fühlt sich einsam, mehr als 40 Prozent psychisch belastet. 

und warum ist das für uns relevant?

Zu Auswirkungen der Pandemie auf die Jugendverbandsarbeit wie im Bayerischen Jugendrotkreuz gibt es derzeit noch keine Studienerhebungen. Ganz offensichtlich ist aber, dass Angebote der Verbände ihre Mitglieder schwieriger erreichen. Und ein Großteil unserer Mitglieder sind eben Kinder und Jugendliche. Im Schulsanitätsdienst erreichen wir Schülerinnen und Schüler. Und als Jugendverband haben wir die Aufgaben, die Anliegen junger Menschen zum Ausdruck zu bringen und zu vertreten. Daher stellt sich gar nicht die Frage, ob dies eine Aufgabe des Bayerischen Jugendrotkreuzes ist. Die Frage müsste lauten, wie wir als Verband hier aktiver werden können. Denn die großen Jugendstudien (Shell, A:IDA, JIM) zeigen deutlich, dass "Freunde treffen" (auch im Rahmen von Jugendverbänden) neben Sport die wichtigste Freizeitaktivität von Jugendlichen ist. Hier wird Selbstwirksamkeit, Kompetenz und Autonomie erlebt. Aus meiner Sicht sind hier zwei Dimensionen zu betrachten. Neben den politischen Handlungsfeldern eben gleichwertig auch die pädagogischen Handlungsfelder, zu denen ein paar der aktuell diskutierten Themen stichpunktartig eine Einlassung folgt. Denn ganz offensichtlich ist es so, dass soziales Lernen und gemeinsames Erleben mit Gleichaltrigen, die Begeisterung für gleichen Interessen, derzeit ausfallen.

Politische Felder:

  • Investitionspaket für Kinder- und Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit und Jugendsozialarbeit in Höhe von 2 Mrd. Euro schnüren (Bundesebene)
  • stärkere nachhaltige und institutionelle Beteiligungsstrukturen für Kinder und Jugendliche schaffen
  • Ausbildungsgarantien für den guten Start ins Berufsleben
  • sichere finanzielle Planungsperspektive für die Träger der Jugendarbeit

Pädagogische Felder:

  • Unterstützungen schaffen, um entstandene Bildungsdefizite aufzufangen
  • Zugänge für Kinder und Jugendliche zu Angeboten der Jugendhilfe verbessern
  • Planungsperspektiven für Jugendarbeit im Sommer (Stichwort: Ferienfreizeiten)

"Jetzt geht wieder alles von vorne los"

kann auch so ein abschließendes Mantra durch die Pandemie sein. Schulschließung folgt Wechselunterricht, folgt Präsenzunterricht, folgt Prüfungen, folgt Schulschließung. Und Kinder und Jugendliche leiden ganz augenscheinlich unter der Situation. Zumindest aber hat die Situation Auswirkungen auf sie. Und gleichwohl meistern sie diese hervorragend. Von Tests in der Schule bis zum Dauerlüften, von minimierten Klassen bis zu Masken im Unterricht, vom täglichen Schulbetrieb auf Wochenwechsel und mal ganz abgesehen davon, dass zum Beispiel in Grundschulen die auch wichtigen Fächer wie Sport und Musik nicht stattfinden können. Während Betriebe weitgehend ohne Eingriffe auskommen, muss spätestens nach der Pandemie (wann genau ist denn so eine Pandemie überhaupt zu Ende?) eine solidarische Unterstützung der jetzigen Kinder und Jugendlichen erfolgen. Sie sind es, die Risiken durch Schulpflicht in Präsenz ausgesetzt sind und diese Pandemie stoisch ertragen. Das muss ihnen goutiert werden. Es braucht eine Hinwendung zu ihnen. Wie kann man dies honirieren? Mit einem geschenkten Jahr für all das, was sie nicht erleben durften vielleicht? Mit einer wirklichen Berücksichtigung ihrer Interessen in den politischen Debatten? Mit einem wirklichen Einsatz für Klimagerechtigkeit durch Erwachsene, damit zumindest dieses Thema nicht im Dauer-Generationenvertrag auch noch durch unsere jetzigen Jugendlichen bearbeitet werden muss? Ich weiß es nicht. So hoffnungsvoll ich - vielleicht naiv - bin, so sehr befürchte ich, dass es bei einem "jetzt geht wieder alles von vorne los" endet. Und so endet auch dieser Beitrag. Und der Song von Tocotronic.

Jörg Duda, Autor dieses Textes

Jörg Duda ist Geschäftsführer des Bayerischen Jugendrotkreuzes.

Im Blog des Bayerischen Jugendrotkreuzes überwiegt die persönliche Meinung, sie steht über den Inhalten. So gelingt es den Autorinnen und Autoren Themen ausführlich aufzubereiten, zum Nachdenken einzuladen und Diskussionen zu erzeugen.

Die Beiträge im JRK-Bayern-Blog erscheinen unregelmäßig regelmäßig.